In einem kleinen Ort in Oberösterreich wurde 1938 eines der vielen nationalsozialistischen Konzentrationslager errichtet: das KZ Mauthausen. Es bestand von 1938 bis 1945. Geleitet und bewacht wurde das Lager von der SS. Die Menschen, die hier gefangen waren, kamen aus vielen Ländern Europas: aus Polen, Russland, Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich usw. Sie waren politische Gegner, gehörten zu Randgruppen (z. B. „Kriminelle“, „Asoziale“) oder wurden aus antisemitischen und rassistischen Gründen verfolgt (z. B. Juden). Meist waren die Gefangenen Männer, aber auch Frauen und Kinder waren darunter.

Im Steinbruch von Mauthausen mussten die Häftlinge schwerste Zwangsarbeit leisten. In den über 40 Außenlagern (Gusen, Steyr, Linz, Ebensee, Wien...) wurden sie für die Rüstungsindustrie eingesetzt. Die Menschen hausten in überfüllten Unterkünften. Sie bekamen zu wenig Essen und Kleidung, sie verhungerten und starben an Krankheiten. SS-Männer erschlugen und erschossen zahlreiche Häftlinge oder ermordeten sie in der Gaskammer von Mauthausen. Insgesamt waren beinahe 200.000 Menschen im KZ Mauthausen und in seinen Außenlagern eingesperrt. Jeder Zweite kam ums Leben.

Das KZ Mauthausen war auf einem Hügel und aus großer Entfernung sichtbar. Viele Menschen hatten mit dem Lager zu tun: Sie hatten dort ihren Arbeitsplatz, belieferten das Lager oder kannten SS-Männer. Fast alle wussten vom Todeslager. Oft verübten die SS-Männer die Verbrechen vor den Augen der Bevölkerung. Am 5. Mai 1945 wurde das KZ Mauthausen von US-amerikanischen Truppen befreit.

 

Hier lernst du die Geschichte eines Menschen kennen, dessen Leben mit dem KZ Mauthausen verbunden war.

Franz Lucas

Text: Oksana Dmytruk Kolarik – Illustration: Michael Car

14. Dezember 1964, wenige Tage vor Weihnachten. Eine Gruppe besucht die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau in Polen. Sie steht an der sogenannten „Rampe“. Es wird die „Selektion“ erklärt: „Hier kamen die Züge herein. Dort wartete dann ein SS-Arzt. Mit der Hand zeigte er an, links, rechts, links, rechts. Rechts bedeutete: Zwangsarbeit im Konzentrationslager. Links hieß: in die Gaskammer.“

 

Es ist keine gewöhnliche Besuchergruppe. Die Besucher sind Richter, Staatsanwälte, Verteidiger des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main. Am Ende der Gruppe geht ein Mann mit einer Narbe auf der Wange. Er ist der einzige Angeklagte, der dabei ist: Dr. Franz Lucas.

 

Er ist 53 Jahre alt, hoch angesehen, bis vor kurzem leitender Frauenarzt im Krankenhaus Elmshorn. Nun führt er eine Privatordination und behandelt an den prozessfreien Tagen seine Patientinnen. Vor Gericht muss er sich als ehemaliger SS-Arzt in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern verantworten.

 

Franz Lucas wird 1911 als Sohn eines Metzgermeisters in Osnabrück geboren. Er besucht ein streng katholisches Jesuitengymnasium in Meppen, gleichzeitig begeistert er sich dort für den Nationalsozialismus. Lucas studiert Medizin in Münster und Rostock und wird Frauenarzt. 1937 tritt er in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und in die SS ein.

 

1939 beginnt der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen. Franz Lucas wird 1942 nach Nürnberg versetzt, wo er in einem SS-Lazarett und als Truppenarzt arbeitet. Eine weitere Versetzung erfolgt 1943, Lucas wird als Arzt jenem Amt in der SS zugeteilt, das für die Konzentrationslager zuständig ist. Die SS-Ärzte bilden in den Konzentrationslagern eine eigene Gruppe. Neben der medizinischen Versorgung von SS-Personal und Häftlingen haben sie eine besondere Aufgabe im nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm. Sie suchen die Menschen aus, die getötet werden sollen, und führen die Morde durch oder überwachen sie.

Franz Lucas wird zunächst SS-Arzt im KZ Auschwitz-Birkenau, wo vor allem Juden und Jüdinnen in den Gaskammern ermordet werden. Die Viehwaggons mit den Männern, Frauen und Kindern aus vielen Teilen Europas kommen an der Rampe von Auschwitz an. Auch Lucas beteiligt sich an den Selektionen der Angekommenen und schickt tausende Menschen in die Gaskammer.

 

Von August bis Oktober 1944 versieht er seinen Dienst als Lagerarzt im KZ Mauthausen. Dort ist die ärztliche Versorgung, wie in allen Konzentrationslagern, zweigeteilt: Im „Revier“ werden bevorzugte Häftlinge behandelt, aber die große Masse der kranken Häftlinge kommt praktisch ohne medizinische Hilfe ins „Sonderrevier“ und ab 1943 ins Sanitätslager.

 

Den SS-Ärzten sind einige Häftlinge, die eine medizinische Ausbildung besitzen, unterstellt. Lucas holt in Mauthausen polnische Häftlingsärzte, die er aus Auschwitz-Birkenau kennt, aus der schweren Arbeit im Steinbruch, damit sie ihre polnischen Landsleute medizinisch versorgen. Mit dem Lagerkommandanten Franz Ziereis gerät Lucas in Streit, weil er KZ-Häftlinge verarztet, die im Steinbruch von Wachhunden gebissen worden sind. Das ist nicht üblich. Außerdem schmuggelt Lucas angeblich Medikamente für die Häftlinge ins Lager.

Andererseits ist Franz Lucas im KZ Mauthausen laut Zeugenaussagen an Selektionen von Gefangenen für die Vernichtungsanstalt Hartheim beteiligt. Zwischen April und Dezember 1944 werden über 3.000 kranke und schwache Häftlinge, darunter viele ungarische Juden und sowjetische Kriegsgefangene, in der Gaskammer von Hartheim getötet.

 

Lucas wird von Mauthausen in verschiedene Konzentrationslager versetzt, schließlich befindet er sich im KZ Sachsenhausen bei Berlin. Von dort macht er sich Mitte April 1945 mit dem Fahrrad auf den Weg nach Elmshorn, wo er bleibt und das Kriegsende im Mai erlebt. Ohne angeklagt zu werden, arbeitet Lucas nach dem Zweiten Weltkrieg als Arzt im städtischen Krankenhaus. Ab 1954 leitet er die gynäkologische Abteilung. Er baut sich ein Einfamilienhaus, heiratet 1950 und wird Vater zweier Töchter.

 

In den 1960er Jahren holt ihn jedoch seine Vergangenheit ein. Franz Lucas ist von 1963 bis 1965 einer der Angeklagten im großen Frankfurter Auschwitz-Prozess. Er behauptet, er sei an den Verbrechen in Auschwitz nicht beteiligt gewesen. Seine Ehefrau Susanne meint, dass ihr Mann zu Unrecht auf der Anklagebank sitze. Sie habe von seiner Kriegsvergangenheit erst durch die Presse erfahren.

Schließlich, nach 143 Tagen Leugnen im Prozess, gesteht Lucas im März 1965 aufgrund von belastenden Zeugenaussagen, dass er Selektionen an der Rampe in Auschwitz durchgeführt hat. Wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens 4.000 Menschen wird er im August 1965 zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Diese Strafe verbüßt er.

 

1969 beginnt eine neue Gerichtsverhandlung, nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil wegen offener Fragen aufgehoben hat. 1970 wird er freigesprochen, weil er manchen Häftlingen geholfen hat und man ihm deshalb glaubt, dass er sich von Vorgesetzten zu den Selektionen gezwungen fühlte.

 

Franz Lucas betreibt seine Privatpraxis als Frauenarzt bis 1983. Er stirbt 1994 in Elmshorn.

Zum Weiterdenken ...

Franz Lucas arbeitet ab 1943 als SS-Arzt in mehreren Konzentrationslagern. Was sind seine Aufgaben dort?


In den 1960er Jahren wird Franz Lucas angeklagt. Seine Ehefrau Susanne will dabei ein gutes Wort für ihn einlegen. Überlege dir, warum sie ihn trotz der belastenden Beweise verteidigt.


Im Rahmen seines Prozesses kehrt Lucas als Angeklagter nach Auschwitz zurück. Welche Erinnerungen könnte er mit seinem ehemaligen Arbeitsplatz verbinden?


Bei deinem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen wirst du auch sehen, wo die SS-Männer gearbeitet und gelebt haben. Finde heraus, wie ihr Alltag dort ausgesehen hat.

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